Der folgende Text ist als Thread auf Twitter erschienen und wir dürfen ihn mit freundlicher Genehmigung von KJP Dr. med. Oliver Dierssen hier als Fließtext veröffentlichen:

Michael Winterhoff behandelt u.a. Kinder und Jugendliche, die an einer Aufmerksamkeitsstörung leiden, mit Pipamperon. Er behauptet, dass die Betroffenen nur mit dieser Medikation „erreichbar“ wären. Warum Pipamperon furchtbar ungeeignet zur ADHS-Behandlung ist – ein Thread.

Die Hauptsymptome einer ADHS im Kindes-/Jugendalter sind Konzentrationsstörungen, Hyperaktivität & Impulsivität. Wird ein Medikament verschrieben werden, sollte es in allen Bereichen wirksam sein. Dies tut z.B. Methylphenidat. Es steigert auch Konzentration & Leistungsfähigkeit. Wird Pipamperon zur ADHS-Behandlung verschrieben, können Hyperaktivität & Impulsivität abnehmen, erkauft durch Sedierung & starke Müdigkeit. Leistungsfähigkeit und Konzentration sinken jedoch stark. Die schulische Kernsymptomatik einer ADHS wird durch Pipamperon somit verstärkt. Kinder mit ADHS nicht leitliniengerecht mit leistungssteigernden Stimulanzien (z.B. Methylphenidat) zu behandeln, sondern lediglich mit starken Beruhigungsmitteln, ist ein schwerer Behandlungsfehler, nicht nur wegen fehlender Wirksamkeit, sondern wegen riskanter Nebenwirkungen: Pipamperon ist ein niederpotentes Neuroleptikum. Diese dämpfenden Medikamente haben ihren Platz in der Notfallpsychiatrie, bei schweren Erregungszuständen & Psychosebehandlung. Einsatz bei Kindern erfolgt i.d.R. kurzzeitig und bei schwersten Symptomen, nicht als Dauermedikation.
Die Zulassung von alten, starken Psychopharmaka ist meist durch die laschen Zulassungsregeln früherer Jahrzehnte gedeckt. Pipamperon (entwickelt in 1960ern) ist in Deutschland für Kinder zwar zugelassen, die Warnhinweise in der Fachinfo sind aber schwer zu übersehen. Neuroleptika wie Pipamperon haben grundsätzlich ein riskantes Nebenwirkungsprofil. Bei älteren Menschen ist eine erhöhte Sterblichkeit unter Behandlung wahrscheinlich. Eine Therapie muss unter regelmäßigen Labor- und EKG-Kontrollen erfolgen. Neuroleptika können erheblichen Einfluss auf den Stoffwechsel haben. Sie werden mit Appetitsteigerung, Gewichtszunahme, Anstieg von Blutfetten, erhöhtem Diabetesrisiko in der Verbindung gebracht. Entsprechende Laborwerte sind i.d.R. vierteljährlich zu kontrollieren. Wie viele Psychopharmaka verändern auch Neuroleptika wie Pipamperon die Herzfunktion. Sie erhöhen das Risiko für gefährliche, auch tödliche Herzrhythmusstörungen (Torsade-de-Point-Tachykardien, Kammerflimmern). Daher sind regelmäßige EKG-Kontrollen vorschrieben. Bewegungsstörungen (Krämpfe, Muskelzuckungen, unwillkürliche Bewegungen), quälende innere Unruhe und ein medikamentöses Parkinson-Syndrom gehören zu den erwartbaren Nebenwirkungen, insbesondere bei höherer Dosierung. Nach Dosisveränderung sind ärztliche Kontrollen nötig!
Bewegungsstörungen (Dyskinesien) bei Neuroleptika-Behandlung sind quälend für Betroffene. Um sie zu erkennen und ggf. Medikamentenwechsel einzuleiten, benötigt man viel Erfahrung und Zeit für gründliche körperliche Untersuchung. Für diese muss man sich nicht entkleiden.
Unerträglich für Betroffene mit Dyskinesien sind Zungen-/Schlundkrämpfe, unkontrolliertes krampfhaftes Augenrollen und Krämpfe der Wirbelsäulenmuskulatur mit Verkrümmung des Körpers (Ophistotonus). Häufigkeit von Ophistotonus bei Pipamperon beträgt ca. 1-10%. Besonders tückisch: Mitunter bleiben Bewegungsstörungen nach Neuroleptikagabe nach Absetzen des Medikaments, auch lebenslang. Diese Tardiven Dyskinesien sind gefürchtet und stets ein Grund, über Behandlung mit Neuroleptika (insbesondere älteren Präparaten) gründlich zu prüfen.
Auch wenn Pipamperon zu den Neuroleptika gehört, die mit etwas geringerer Wahrscheinlichkeit Tardive Dyskinesien auslösen, summiert sich dieses mit der Behandlungszeit auf. Behandlungen von 10 Jahren sind hochriskant. Hier ein Video eines Betroffenen.
Ein medikamentöses Parkinson-Syndrom, ausgelöst u.a. durch Behandlung mit Neuroleptika wie Pipamperon ist nicht mit dem „Parkinson“ der Erwachsenen zu verwechseln. Die Symptome sind jedoch identisch: Gelenksteifigkeit, Zahnradphänomen, Zittern, Bewegungsarmut, Gangunsicherheit. Neuroleptika können das Hormonsystem beeinflussen. Zu den Nebenwirkungen zählen Brustwachstum bei Jungen (Gynäkomastie), Milchfluss und Ausbleiben der Periodenblutung. Diese Symptome können mit massivem Leidensdruck einhergehen.

Warum ich Pipamperon als Wirkstoff herausgreife? Weil nach WDR-Recherchen ein erheblicher Teil der von Winterhoff behandelten Kinder Pipamperon erhielten – und stets diesen Wirkstoff, immer zur gleichen Pseudo-„Diagnose“: Entwicklungsstörung mit narzisstischer Fixierung.

Dass eine gute erforschte Erkrankung wie ADHS (anstatt durch zahlreichen wirksamen nicht-medikamentöse und medikamentöse Therapieoptionen) mit Neuroleptika behandelt wird, ist unerhört, nicht durch Leitlinien gedeckt, ein schwerer Behandlungsfehler. Vielleicht hat Winterhoff bei den Betroffenen keine ADHS diagnostiziert, weil er mit der Erkrankung nicht vertraut ist & auf selbst erfundene Fantasiediagnosen setzt, die in keinem Lehrbuch stehen? Doch warum kodierte er dann ADHS bei den Krankenkassen als Behandlungsdiagnose?
Möglich ist vielleicht auch: Winterhoff verschrieb Hunderten Kindern Neuroleptika, weil ihm Kinder am besten so gefallen – müde, schlapp, leise und gehorsam. Aber das ist meine subjektive Idee, die vielleicht gar nicht stimmt und bestimmt von der Meinungsfreiheit gedeckt ist.
Die Screenshots aus diesem Thread (Anm.: auf die wir hier im Blogtext verlinkt haben) sind der Fachinformation von Pipamperon HEXAL entnommen.